Einfühlungsvermögen ist kein Hexenwerk. Manche Menschen glauben, dass sie darin nicht gut sind. Was uns aber daran hindert, anderen Menschen näher zu kommen anstatt uns von ihnen zu entfernen, ist nicht ein Mangel ein Einfühlungsvermögen. Es ist die fehlende Bereitschaft, sich mit den eigenen Abwehrmechanismen zu beschäftigen.

Einfühlungsvermögen ist keine Fähigkeit, sondern ein Wagnis

Gibt es eine Definition von Einfühlungsvermögen? Wenn ein Mensch sagt, dass er wenig Einfühlungsvermögen hat, meint er damit oft, dass es ihm nicht gut gelingt, die Gefühle anderer Menschen nachzuempfinden und einzuschätzen, wie es der anderen Person geht und wie sie sich verhalten wird.

Einfühlungsvermögen

Und ja: Es gibt Menschen, die haben mehr Empathie als andere. Aber: Das größte Hindernis auf dem Weg zu mehr Einfühlungsvermögen ist etwas ganz anderes: Die eigenen Abwehrmechanismen.

In der Regel ist es nicht an Mangel an Fähigkeiten, der uns davon abhält, uns in jemand anderen hineinzuversetzen – sondern der eigene Trotz. Einfühlungsvermögen benötigen wir gerade in solchen Situationen, wenn wir eine Person nicht von selbst verstehen, wenn es vielleicht sogar schon zu einem Konflikt oder einer Spannung gekommen ist. Was dann in unserem Kopf vorgeht ist klar: Der andere ist daran schuld, dass es zum Streit gekommen ist. Er oder sie hat dies oder jenes gesagt oder getan, und dann ist es doch klar, wenn wir selbst dann auch ungehalten werden.

Was uns in so einer Situation davon abhält, sich in den anderen hineinzuversetzen ist also nicht ein Mangel an emotionaler Kompetenz, sondern eine fehlende Bereitschaft, uns selbst infrage zu stellen – schließlich ist es ja der andere, der das alles verursacht hat! Leider denkt die andere Person das aber meisteins auch – und so ist ein Streit vorprogrammiert.

Einfühlungsvermögen hat zunächst erstmal mit mir selbst zu tun: Ich muss in mich hineinspüren und erkennen, wann mein eigener Dickkopf verhindert, dass ich mein Einfühlungsvermögen überhaupt einsetze. Und dann muss ich mich dazu durchringen, trotzdem die Perspektive des anderen einzunehmen – und nach seinen positiven Bedürfnissen hinter seinem negativen Verhalten zu suchen.

Konflikte entstehen oft aus einer mangelnden Bereitschaft zur Selbstkritik

Wenn ich andere nicht verstehe, dann liegt das fast immer an mir. Und das liegt wiederum fast nie an mangelndem Einfühlungsvermögen, sondern an mangelnder Bereitschaft, den eigenen Trotz und Stolz zu überwinden.

Wir vermeiden Konfliktsituationen – und dadurch auch die Lösung

Konflikte mit anderen Menschen äußern sich nur selten in akuten Streitsituationen. Einen Großteil der Zeit läuft der Konflikt eher im Hintergrund, im Untergrund, subtil und ohne direkten Kontakt zwischen den Konfliktparteien.

Das hat zwei gute Gründe: Erstens hat kaum jemand Lust, einen Konflikt permanent offen auszutragen – oft schmeißt man einander im Streit fiese Dinge an den Kopf und hat daran noch lange zu knabbern. Eine Vermeidung der akuten Konfliktsituation ist also durchaus nachvollziehbar, aber leider überhaupt nicht förderlich. Denn genau das hält den Konflikt oft aufrecht – und damit kommen wir zum zweiten Grund, warum Konflikte oft unterschwellig weiterbestehen. Im Streit mag es zwar einen realen Konflikt geben, man mag anderer Meinung sein und sagt und tut vielleicht Dinge, die den anderen verletzen. Der Streit existiert also in der Realität – aber die Eskalation findet immer im Kopf statt. Und genau dafür brauche ich die Vermeidung.

Einfühlungsvermögen und Konflikte

Feindseligkeiten funktionieren nur aus der Ferne

Nur, wenn ich mich nicht mit dem anderen austausche, nur wenn er mir nicht seine Gründe und Motive erläutern kann, nur wenn er gar keine Gelegenheit bekommt, über seine Bedürfnisse und Wünsche zu sprechen; nur dann kann ich ihm all die fiesen Unterstellungen machen, die zu Eskalation und Feindseligkeit führen können.

Wenn hingegen den Kontakt suchen und uns in das Problem hineinbegeben, dann kommen wir mit den positiven Motiven und nachvollziehbaren Bedürfnissen des anderen in Kontakt. Und genau dann kann die Feindseligkeit nicht aufrechterhalten werden – man kommt nämlich dann nicht umhin, ein gewisses Verständnis für den anderen zu entwickeln, die Welt aus seinen Augen zu sehen; sich einzugestehen, dass man selbst in dieser Lage ähnlich fühlen und handeln würde. Und genau das bringt uns einem Menschen näher, genau das baut Konflikte ab. Feindseligkeit kann in den meisten Fällen nur aus der Ferne aufrechterhalten werden.

Wenn das eigene Kartenhaus zusammenfällt, dann findet Einfühlungsvermögen statt

Natürlich muss man sagen, dass das nicht für alle Konflikte gilt: Bei einigen wenigen Konflikten kommt es durch das gemeinsame Gespräch zu einer Vertiefung und Verhärtung des Konflikts. Das wiederum liegt aber nicht daran, dass man miteinander redet, sondern wie man miteinander redet. Allerdings muss auch klar gesagt werden: Nur weil es bei einigen wenigen Konflikten so läuft, ist das keine Ausrede, in allen anderen Situationen das Gespräch zu vermeiden. Auch wenn es unplausibel klingen mag: Die meisten Konflikte können im persönlichen Gespräch nicht aufrechterhalten werden, weil dann unser gesamtes Kartenhaus in sich zusammenfällt. Fast niemand hat so fiese Absichten, wie wir sie in unserem eigenen Kopf jemandem unterstellen können. Fast niemand hat so unlautere Beweggründe, fast niemand hat Spaß daran, anderen Menschen wehzutun.

Was hilft uns, andere Menschen besser zu verstehen?

Der Grundgedanke der Empathie ist recht einfach: Einfühlungsvermögen findet dort statt, wo es uns gelingt, andere Menschen besser zu verstehen. Und wo dieses Verständnis ausbleibt, dort kommt es zu Entfernung, Entfremdung und Feindseligkeit.

Was aber entscheidet darüber, ob wir Verständnis für den anderen entwickeln können? Absurderweise findet der entscheidende Unterschied in uns selbst statt. Das, was uns wirklich hilft, andere besser zu verstehen, hat mit den anderen überhaupt nichts zu tun. Es geht um einen Perspektivenwechsel, den ich selbst vornehmen muss. Und über den die andere Person überhaupt keine Kontrolle hat.

Der entscheidende Schritt in Sachen Einfühlungsvermögen ist der Ansatzpunkt: Wo setze ich mit meinen Verstehens-Bemühungen an? An welchen Stellen versuche ich, an den anderen anzudocken?

Einfühlungsvermögen

Der Königsweg zur Feindseligkeit: Ansetzen beim Verhalten

Der beste und schnellste Weg zur Feindseligkeit (und damit fehlendes Einfühlungsvermögen) liegt darin, möglichst am Verhalten des anderen anzudocken. Dieses Verhalten sollte dann am besten nicht objektiv beschrieben, sondern schon subjektiv von mir gedeutet worden sein. Wenn ich an einem Verhalten andocke, dann ist die Sache für mich klar: „Der andere hat mich angeschrien, er war mir gegenüber also aggressiv. Und das liegt daran, dass er ein Narzisst ist und sich einfach nicht für das Wohlergehen anderer interessiert.“

Das ist keine objektive Beschreibung, denn bereits „angeschrien“ ist eine Interpretation und hat mit Referenzwerten zu tun, die ich implizit als wahr voraussetze. Dass dieses Anschreien aggressiv war, ist eine Deutung von mir. Das hat mit mir und meinen Erfahrungen und Einschätzungen zu tun. Wenn ich dann noch unterstelle, dass jemand sich nicht für das Wohlergehen anderer interessiert, dann ist das Gedankenlesen – denn ich habe ja überhaupt keinen direkten Zugang zu den Motiven und Beweggründen anderer Menschen. Und wenn ich das Verhalten dann durch eine narzisstische Persönlichkeitsstörung erkläre, dann ist das eine Diagnose, also ein von Theoriewissen angeleiteter Versuch, das real Beobachtbare mit irreal konstruierten Kategorien zu systematisieren – eine narzisstische Persönlichkeitsstörung kann man in der Wirklichkeit überhaupt nicht beobachten (was aber natürlich nicht heißt, dass es kein sinnvolles und hilfreiches Konzept ist.)

Allerdings liegt der Fehler hier nicht nur in den ganzen ungedeckten Schlussfolgerungen und Unterstellungen. Das Problem ist, dass der Ansatzpunkt beim Verhalten einfach dafür prädestiniert ist, solche Gedanken zu entwickeln. Wir könnten also auch einfach einen anderen Ansatzpunkt für unsere Wahrnehmung wählen.

Der Königsweg zu mehr Einfühlungsvermögen: Ansetzen bei den Bedürfnissen

Wir alle haben dieselben Bedürfnisse. Deswegen verstehen wir andere Menschen auch so gut: Wenn ich sehe, dass jemand seinen Job nicht kündigt, weil er Angst hat, dann sehe ich dahinter ein Bedürfnis nach Sicherheit, nach Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts. Ich muss nicht gut finden, wie er versucht, dieses Bedürfnis zu befriedigen, aber ich verstehe, warum ihm das so wichtig ist. Denn ein Bedürfnis nach Sicherheit habe ich auch. Und deswegen verbindet es mich mit dem anderen. Wenn wir bei den Bedürfnissen ansetzen, bringt uns das anderen näher, weil sie dann so erscheinen, wie wir selbst sind – wir haben Verständnis, oder anders: Empathie.

Wenn wir hingegen primär das Verhalten sehen, trennt uns das vom anderen. Es ist keine gute Idee, wenn man einfach nur den geltungssüchtigen Kollegen sieht, wie er sich wieder ins Rampenlicht rückt und dafür feiern lässt, wie toll er ist. Was für ein Angeber!

Wenn ich aber auch hier nach dem Bedürfnis suche, dann sehe ich vielleicht ein unbefriedigtes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, nach Zuwendung und Zuspruch, vielleicht sogar nach Liebe. Und vielleicht sehe ich dann auch den kleinen Jungen, der genau das in seiner Kindheit nicht bekommen hat. Genau das im Erwachsenenalter nachzuholen, treibt Menschen dann zu solchen Prahlereien. Aber das Bedürfnis nach Anerkennung und Zuspruch kann ich verstehen. Und mit dem kleinen Jungen, dem das Wichtigste in seiner Kindheit versagt wurde, kann ich sehr viel besser Mitgefühl haben als wenn ich nur das Endresultat sehe: die Prahlerei des geltungssüchtigen Kollegen.

Wenn wir nur das Verhalten einer anderen Person sehen, bleibt sie uns fremd und wir verurteilen sie. Wenn wir das unbefriedigte Bedürfnis hinter dem Verhalten sehen, fangen wir an zu verstehen und kommen der Person näher.

Bedürfnisse vs. Strategien zur Bedürfnis-Befriedigung

Deshalb müssen wir immer zwischen Bedürfnissen und Realisierungsstrategien unterscheiden. Das Bedürfnis ist nachvollziehbar, menschlich, verständlich. Die Realisierungsstrategie hingegen mag kontrovers sein. Menschen wählen unterschiedliche Wege zum Ziel.

Das Ziel vereint uns – wir alle wollen unsere Bedürfnisse befriedigen. Die Wege dorthin hingegen trennen uns – und das führt zu Konflikten.

Deshalb ist die Trennung zwischen Bedürfnis und Bedürfnisrealisierungsstrategie (was für ein Wort!) in der Empathie so wichtig. Erst wenn ich das trennen kann, dann ist es mir möglich, bei den Bedürfnissen des anderen anzudocken – und das führt zu Verständnis.

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