Die philosophische Aufklärung lässt sich nach Immanuel Kant mit einer einfachen Forderung auf den Punkt bringen: Sapere aude. Zu Deutsch: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Darin liegt eine Binsenweisheit – nämlich, dass es in der Philosophie darum geht, das eigene und selbstständige Denken weiterzuentwickeln – und damit auch um Selbstbestimmung im Rahmen der eigenen Persönlichkeitsentwicklung. Gleichzeitig schwingt die große Gefahr der Philosophie mit, nämlich dass durch die Gedanken philosophischer Autoritäten das eigene Denken auch verlernt werden kann. Ein guter Philosoph ist nicht einfach nur die Nachahmung eines exzellenten Philosophen. Das selbstständige Denken ist eine Aufgabe, die man nicht delegieren kann.
Nicht selten lese ich Definitionen, nach denen Philosophie so etwas sei wie das systematische, kritische und selbstständige Nachdenken über den Menschen und die Welt, jenseits von Dogmen und Vorurteilen. In diesem Sinne scheint Philosophie etwas zu sein, was man nicht einfach nachahmen kann. Deshalb ist eine gute Philosophin im Grunde vor allem eins: authentisch. Vor solchen Dingen wie Intelligenz, Abstraktionsfähigkeit, Beobachtungsgabe usw. zeichnet sich ein Philosoph vor allem dadurch aus, dass er sein eigenes Ding macht und nicht einfach nachmacht, was andere vor ihm gemacht haben. Er wäre somit ein Beispiel für gelebte Selbstbestimmung. Denn es gibt Dinge, die kann man nicht durch Nachahmung oder Kopie erlangen.
Man kann ein guter Zeichner sein, wenn man den Stil von Picasso fehlerfrei nachahmen kann. Aber man ist deshalb noch kein guter Künstler. Genauso ist es auch mit dem guten Leben: Um meine inneren Werte und Lebensziele herauszufinden, kann ich sie nicht einfach von anderen übernehmen. Und ich kann mir meine eigene Identität nicht einfach bei anderen Menschen abgucken. Meine Vorbilder mögen mich inspirieren, aber wenn ich so sein will wie sie, dann verliere ich genau das, was ich verwirklichen möchte: mein eigenes Selbst und damit meine Selbstbestimmung.
Es gibt viele Dinge, die ich an andere delegieren kann: den Bau und die Bereitstellung meiner Wohnung, meine Steuererklärung oder die Beförderung meiner Person von einem Ort zum anderen.
Aber es gibt eben auch Dinge, die kann ich grundsätzlich nicht delegieren, selbst dann, wenn ich dies möchte. Hier einige Beispiele:
Das Eigene und das Fremde
Auf der anderen Seite muss man natürlich kritisch fragen: Wo kommt dieses Eigene und Selbstständige an mir eigentlich her? Wie werde ich überhaupt zum Individuum? Wie entstehen meine Bedürfnisse? Ist meine Persönlichkeit genetisch vorherbestimmt – oder was führt dazu, dass ich genau diese meine Werte und Ziele im Leben habe? Wie ist Selbstbestimmung überhaupt möglich?
Eigenes entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern in der Auseinandersetzung mit Fremdem. Das Eigene macht nur Sinn in Bezug auf ein Anderes, also z.B. in der Interkation mit einer Umwelt und anderen Menschen. In diesem Sinn gäbe es nichts Schlimmeres als Philosophen, die glauben, dass ihr eigenes Denken so selbstständig ist, dass es voraussetzungslos wäre. Wie wir denken, was wir für interessant halten, welchen Argumentationsmustern wir folgen – all das entsteht nicht im Eigenen, sondern im Anderen. Das ist der Einfluss, den die Umwelt – vor allem die Vorwelt – auf uns ausübt. In der kritischen Auseinandersetzung mit diesen unvermeidbaren Einflüssen entsteht so etwas wie das eigene Selbst. Es gibt nichts Schlimmeres als einen Philosophen, der glaubt, er sei der erste, der einen Gedanken denke. Die großen Probleme der Philosophie versteht man erst, wenn man die wichtigsten Lösungsversuche kennt. Denn über fast alle Fragen hat auch Platon oder Kant oder Nietzsche schon nachgedacht – und sie sind damit viel weitergekommen als ich auf eigene Faust überhaupt kommen könnte.
Deshalb darf man selbstständiges Denken nicht mit Ignoranz verwechseln: Eine Meinung zu haben hat nichts mit Philosophie zu tun. Meinungen gibt es wie Sand am Meer – so etwas interessiert mich nicht. Mich interessieren Positionen, die erst aus einer Auseinandersetzung mit bisherigem philosophischem Denken entstehen. Die Vorstellung, ich sei der erste und einzige auf der Welt, der eine Lösung für den Nah-Ost-Konflikt gefunden hat, ist kein Zeichen von selbstständigem Denken, sondern vielmehr von narzisstischer Eigenfixation unter Ausblendung der bisherigen Diskussion. Denn wenn ich mir anschauen würde, was bisher dazu gesagt wurde, würde ich schnell bemerken, dass meine Idee hoffnungslos naiv und überholt ist.
Gute Philosophie ist meistens einfach das Nachdenken und Weiterdenken von Gedanken anderer – aber auf eine eigene Weise, sodass daraus durchaus etwas Neues oder Bereicherndes entstehen kann.
Selbstständiges Denken und Selbstbestimmung sind also das Gegenteil von „eine Meinung dazu haben“. Es besteht vielmehr darin, die Positionen zu verstehen und sie kritisch prüfen und selbstständig beurteilen zu können.
Dadurch taucht nun ein Spannungsverhältnis auf: Einfach nachzuplappern, was Kant oder Hegel gesagt haben, ist die Arbeit eines Historikers, nicht die eines Philosophen. Und einfach nur Bindestrichwörter aneinander zu reihen macht mich auch noch nicht zum Existenzphilosophen. Gleichzeitig komme ich aber im eigenen Kopf alleine nicht wirklich weit. Niemand ist so klug, dass er in einer Lebensspanne so viel auf die Beine stellen könnte wie fast drei Jahrtausende philosophischer Diskurs.
„Standing on the shoulders of giants” lautet der Titel eines mittelmäßigen Oasis-Albums aus dem Jahr 2000 – das könnte auch das Motto eines jeden selbstständig Denkenden sein.
Lernt oder ver-lernt man durch Philosophie das Denken?
Durch dieses Spannungsverhältnis zwischen zu viel und zu wenig Eigenem – also zwischen zu wenig und zu viel Anderem – wird nun auch ersichtlich, dass man beim Philosophieren nicht nur das selbstständige Denken lernen kann – man kann es auch ver-lernen. Wenn man in seinem eigenen Kopf bleibt und glaubt, man sei der einzig intelligente Mensch auf diesem Planeten, zeugt dies nicht von Eigenständigkeit oder Selstbestimmung, sondern von Wahnvorstellungen. Damit ver-lernt man das Denken, denn es gibt keine Korrekturmöglichkeit mehr von außen, keine Impulse und Anregungen für Veränderung.
Wer hingegen das Denken und die kritische Prüfung von Gedachtem einfach an „die großen Philosophen“ delegiert, weil man sich selbst dieser Herausforderung nicht gewachsen sieht, der ist ein billiges Imitat – und das Original wird immer besser sein. Gerade in diese Falle tappen viele Philosophie-Studenten; ich selbst schließe mich hier übrigens gänzlich mit ein. Wenn man mit der Philosophie anfängt, versucht man erstmal, so schnell wie möglich so zu reden wie die anderen, wie die großen, und kopiert schamlos die Größen des eigenen Fachs. Das Problem ist aber, dass die Philosophie in ihrer Ursprungsform nicht vom Philosophierenden getrennt werden kann – ich bringe mich selbst immer mit ein, ob ich will oder nicht. Wenn ich mich zu sehr von den Besten der Besten beeinflussen lasse, verliere ich mich selbst, dann gibt es kein Gesicht mehr hinter der Maske. Und das führt zu Selbstentfremdung.
Und das wiederum zeichnet einen schlechten Philosophen aus. Wer glaubt, dass er sich beim Philosophieren an irgendeinen Sprachstil von Kant oder an eine Textstruktur irgendwelcher Fachjournals halten müsse, hat seine Verantwortung für das eigene Denken abgegeben. Wer sein eigenes Denken nur daran ausrichtet, ob andere Denker daran gefallen finden, verliert sein eigenes Denken aus dem Blick. Gerade zu Beginn des eigenen Studiums oder bei der Verfolgung einer akademischen Laufbahn fokussieren sich viele Denkende zu stark auf andere und machen nur an deren Urteil fest, was das eigene Denken taugt. Zu viel dieser Außenorientierung führt dazu, dass man vor lauter Anstrengung das Denken ver-lernt. Wenn ich das Gefühl habe, ich darf das, was in meinem Kopf abgeht, nicht in dieser Form zu Papier bringen – dann habe ich einen Entfremdungsprozess hinter mir, mit dem man vielleicht noch einen Text schreiben kann, aber im strengen Sinne aufgehört hat, zu philosophieren.
Philosophieren kann also zwei gegensätzliche Effekte haben: Ich kann mich selbst formen und finden; oder ich kann mich selbst verlieren.
Diese Problematik lässt sich – so glaube ich – auf viel mehr anwenden als bloß auf das eigene Denken. Auch die Führung des eigenen Lebens – also die praktische Selbstbestimmung – ist von der Art, dass ich nicht zu viel auf andere und ihr Urteil schauen darf, damit ich mich selbst nicht verliere; aber gleichzeitig auch nicht zu wenig, denn ich muss ja nicht bei Null anfangen, wenn andere ihr ganzes Leben über dasselbe Problem nachgedacht haben.
„Der Dumme lernt aus seinen Fehlern, der Kluge aus den Fehlern der anderen“, sagt Konfuzius. Viel besser als die Rede vom „eigenständigen“ oder „selbstständigen“ Denken und Leben in reiner Selbstbestimmung gefällt mir der Begriff der „Authentizität“ oder „Aufrichtigkeit“. Eine authentische Lebensweise kultiviert man, indem man sich mit den Gedanken anderer auseinandersetzt – und zwar auf eigene und selbstständig-kritische Art und Weise. Das eigene Selbst ist das Produkt einer Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt, zwischen mir und Welt – und Selbstbestimmung ist nicht zuletzt die Anerkennung und Auseinandersetzung mit dieser Tatsache.
Aufrichtigkeit besteht darin, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen, ohne sich selbst in deren Urteil zu verlieren.