Was ist eigentlich Selbstverwirklichung? Dieses Wort wird so häufig daher gesagt, dass wir schon fast gar nicht mehr fragen, was es eigentlich heißen soll. Im Grunde sagt es das Wort schon: es geht um die Verwirklichung des eigenen Selbst. Doch was genau heißt das? Und warum muss das eigene Selbst verwirklicht werden – ist es denn bisher unwirklich und irreal? Ja und nein.
„Werde, der du bist“ – sagt Nietzsche. Sei die beste Version deiner selbst!
Man muss hier unterscheiden: Es gibt ein aktuelles, reales, faktisches Selbst – so bin ich. Aber es gibt auch ein zukünftiges, normatives, hypothetisch Selbst – so möchte ich gerne (in Zukunft) sein. Selbstverwirklichung meint nur einfach nur die Entwicklung des faktischen Selbst hin zu meinem idealen Selbst.
Der Philosoph Aristoteles hatte genau das im Sinn, als er vom „Glück“ sprach (er nannte das auf Altgriechisch „eudaimonia“). Für Aristoteles wird nicht der glücklich, der das Leben einfach nur genießt und immer nur seinen Neigungen folgt. Im Gegenteil: Glück hat auch etwas mit Arbeit zu tun – nämlich der Arbeit am eigenen Selbst. Es geht darum, das eigene Potenzial zu verwirklichen: Also das, was ich grundsätzlich sein könnte, auch wirklich zu werden.
Wenn ich nur 1,60m groß bin, werde ich wohl niemals der größte Basketballer aller Zeiten werden. Das ist etwas, was ich grundsätzlich nicht sein kann.
Wenn ich allerdings ein Talent für Bewegung mitbringe, dann gibt es durchaus einige Sportarten, in denen ich herausragend gut werden könnte, wenn ich genug übe. Und den Ausbau der eigenen Talente und die Perfektionierung der eigenen Anlagen – das könnte man mit Aristoteles Selbstverwirklichung nennen.
Selbstverwirklichung heißt, die eigenen Talente zu erkennen, weiterzuentwickeln und das eigene Selbst zu formen.
Wenn ich mich also selbstverwirklichen möchte, muss ich nicht einfach nur irgendwelche Träume entwickeln und diesen dann nachjagen. Es ist absolut entscheidend, dass diese Träume meine Träume sind – und sich an meinen Stärken, Talenten und Interessen orientieren, die man nicht beliebig verändern kann. Mein Selbst ist bis zu einem gewissen Grad frei und flexibel – aber nur bis zu einer gewissen Grenze.
Wir sind zwar durch unsere Biologie nicht hinreichend festgelegt, dies oder jenes zu sein oder zu werden. Menschen haben in ihrer Persönlichkeitsentwicklung einen großen Spielraum, sie können immer „mehr“ sein als sie sind. Wir können nicht nur etwas werden, sondern wir können auch etwas anderes werden, d.h. wir formen unser Selbst durch bewusste Entscheidungen und eingeübte Gewohnheiten.
Für uns Menschen ist nicht alles möglich. Aber es gibt immer einen Unterschied zwischen dem, was wir sind – und dem, was wir sein könnten. Wir alle könnten im Rahmen unserer Möglichkeiten eine bessere Version von uns selbst sein.
Nicht jeder kann der beste Pianist der Welt werden – aber wir alle können unser ganz eigenes Talent realisieren: manche können gut tanzen, andere spielen gerne Computerspiele, andere wiederum haben ein handwerkliches Talent.
Die eigene Identität ist nicht vorgeben, sondern geschaffen: Was machen wir aus dem, was wir von Natur aus mitbringen?
„Mein Leben ist mein größtes Kunstwerk“ – das ist ein Satz, den ich häufig sage und von dem ich auch zutiefst überzeugt bin (wahrscheinlich vor allem, weil ich als Künstler nicht talentiert genug bin, etwas Besseres hervorzubringen). Ich sehe es als einen Selbstzweck im eigenen Leben an, mein Selbst zu formen und an meiner Persönlichkeitsentwicklung zu arbeiten. Um es mit Nietzsches Worten zu sagen: Dann werde ich vielleicht irgendwann der, der ich bin.