Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sind nicht dasselbe. Ich bin ehrlich, wenn ich andere Menschen nicht belüge. Aufrichtig bin ich hingegen, wenn ich mich selbst nicht belüge. Deshalb kann ich durchaus ehrlich und unaufrichtig zugleich sein. Wenn ich z.B. meine eigenen Lügen glaube und sie dann anderen weitererzähle, dann bin ich ehrlich, denn ich glaube ja selbst fest daran, die Wahrheit zu sagen. Aber ich bin unaufrichtig, weil ich an meine eigenen Lügen glaube.
Ehrlichkeit ist oft viel einfacher als Aufrichtigkeit. Jeder von uns weiß, was er tun muss, um ehrlich zu sein. Aufrichtigkeit ist aber viel mehr: Es bedeutet, dass ich meinen eigenen Lügen, meinen Selbsttäuschungen auf die Spur gekommen bin, dass ich ein ungeschöntes Bild von mir selbst habe. Ist das der Fall, bin ich aufrichtig zu mir selbst.
Aufrichtigkeit ist anspruchsvoller als Ehrlichkeit. Es hat mit der Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ zu tun, und die Herausforderung dabei ist, ein möglichst schonungsloses und ungeschminktes Bild von sich selbst zu haben. Es gibt immer einen Unterschied zwischen der Person, die ich wirklich bin; und der Person, die ich so gerne sein würde.
Kann ich ehrlich sein, wenn ich meine eigenen Lügen glaube?
Philosophen stellen sich komische Fragen. Wenn im Wald ein Baum umfällt, und niemand ist da, um es zu hören – gibt es dann wirklich ein Geräusch? Nein, über solche Fragen denken Philosophen nicht wirklich nach, das ist nur ein Klischee. Worüber ich aber tatsächlich schon eine Weile nachdenke ist aber eine ähnlich merkwürdige Frage: Wenn man sich selbst belügt und dann irgendwann anfängt, diese Lügen auch wirklich zu glauben, ist man dann nicht trotzdem ehrlich, wenn man diese Lügen anderen Menschen weitererzählt? Kann man dann aufrichtig sein?
Okay, eins nach dem anderen. Es gibt viele gute Gründe, warum Menschen sich selbst anlügen. Ich wäre gerne mutig, bin aber ein Angsthase. Also muss ich mein Selbstbild etwas beschönigen, gewisse Ereignisse aus meiner Vergangenheit hervorheben und andere „vergessen“. Und ich muss mich selbst anderen gegenüber so inszenieren, dass ich als mutiger Mensch rüberkomme. Damit gibt es keine ganz so klaffende Lücke mehr zwischen Anspruch und Wirklichkeit – weil ich die Wirklichkeit etwas „geschminkt“ habe.
Oder wenn ich z.B. eine attraktive Person auf einer Party anspreche und sie mir eine Abfuhr erteilt, dann ist das sehr unangenehm und kratzt an meinem Selbstwert. Ich könnte mich jetzt einfach belügen und denken: „Diese Person war eh viel zu hässlich für mich, die hätte ich gar nicht gewollt“. Diese Selbstlüge führt dazu, dass es um meinen Selbstwert wieder besser steht. Dafür musste ich einfach nur eine schöne Lügengeschichte erfinden.
Ehrlichkeit gegenüber anderen ist nicht das Problem
Der Punkt ist nun: Wenn ich irgendwann wirklich anfange zu glauben, dass die andere Person nichts für mich gewesen wäre, dass mir sowieso ihre Stimme nicht gefallen hat und ich ohnehin nicht verstehen kann, wie man diesen einen Film so gut finden kann, wenn ich also irgendwann auch mich selbst davon überzeugt habe, dass es für mich nicht gepasst hat, dann ist das für mich Realität geworden. Ich denke und fühle nun tatsächlich so – zumindest, wenn die Selbsttäuschung gut genug funktioniert.
Wenn mich jetzt jemand fragt, warum aus uns beiden nichts geworden ist, werde ich sagen: Die Person hat nicht zu mir gepasst – ich dachte, dass sie zu mir passen könnte, aber es hat sich herausgestellt, dass sie ganz andere Interessen hat und mich nicht so anspricht. Die philosophische Frage ist nun: Bin ich dann ehrlich?
Man kann sicher sagen, dass es nicht die Wahrheit ist, denn selbst wenn ich fälschlicherweise an eine Lüge glaube oder mich irre, sage ich noch lange nicht die Wahrheit. Aber ich bin zumindest ehrlich, denn ich sage das, was ich denke und fühle – also zu welchen Gedanken und Gefühlen ich in diesem Augenblick einen bewussten Zugang habe. Man kann mir in diesem Sinne nicht wirklich Vorwürfe machen oder mir absichtliche Unehrlichkeit unterstellen.
Was bedeutet es, aufrichtig zu sein?
Deshalb: Ehrlichkeit gegenüber anderen ist nicht das Problem. Aufrichtigkeit ist viel seltener als Ehrlichkeit.
Aufrichtigkeit heißt, all die negativen Gefühle auszuhalten, die in mir aufkommen, wenn ich mir eingestehen muss, dass ich nicht so toll bin wie ich gerne wäre, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen der Person, die ich gerne wäre – und der Person, die ich tatsächlich bin.
Wer wirklich aufrichtig zu sich selbst sein möchte, der muss:
Wenn dir Aufrichtigkeit wichtig ist, dann musst du deinen eigenen Abwehrmechanismen auf die Spur kommen. Dieser Weg ist nicht einfach. Deshalb haben wir bei mindyourlife dafür Verfahren entwickelt, mit dem du deine Selbstlügen Schritt für Schritt aufdecken kannst. Schau dir dazu unseren Reiseführer “Blind Spots” an. Der Weg in die dunklen Tiefen der eigenen Psyche ist nicht einfach – aber wer ein vollständiges Bild von sich selbst erlangen möchte, der muss sich eben auch die eigenen Schattenseiten ansehen, und nicht nur das eigene Instagram-Profil.
Wie sieht deine Schattenseite aus? Finde es heraus.